Fachkräftesicherung: KI ist nicht alles - oder doch?
Man kann das Buzzword kaum mehr hören: „Künstliche Intelligenz“ (KI) soll das automatisierte Fahren möglich, Sprachassistenten täuschend echt und die Instandhaltung in der Produktion vorausschauend machen. Und doch hat der KI-Hype einen hochrelevanten Kern: die Erkennung von Mustern in großen Datenmengen mithilfe von Algorithmen, die Antizipation von Entwicklungen – „predictive“ heißt das Zauberwort.
Dass KI auch für die Fachkräftesicherung nutzbar gemacht werden kann, war Thema einer digitalen Veranstaltung, die Anfang Juni im Rahmen der Reihe „17 Ziele – eine Branche: Was kann man von der Chemie erwarten?“ durchgeführt wurde. Veranstalterin war die Nachhaltigkeitsinitiative Chemie³. Diskutiert haben die Chemie-Sozialpartner mit Politik, Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und Bundesinstitut für Berufsbildung.
Pionierarbeit: der Future Skills Report Chemie
Und was kann KI nun leisten in Sachen Fachkräftesicherung? Jede Menge: Orientierung für Unternehmen und Beschäftigte! Den neuen und ersten Future Skills Report Chemie stellte Christian Vetter, CEO und Gründer des Analytics-Anbieters HRForecast, vor.
STANDPUNKT BAVC-Präsident Kai Beckmann
“Für Unternehmen und Beschäftigte ist entscheidend, dass wir uns frühzeitig und strategisch mit den Skills der Zukunft beschäftigen. Unsere Branche, unsere Unternehmen, aber auch jeder einzelne Beschäftigte muss sich fragen, welche Fähigkeiten wir in zwei, in fünf oder in zehn Jahren brauchen, um erfolgreich zu bleiben. Der Future Skills Report liefert Antworten auf diese Fragen und hilft uns, die Personalplanung noch zielgenauer anzugehen.”
Der Future Skills Report beschreibt anschaulich und auf der Grundlage von mehr als 200.000 „intelligent“, also algorithmisch ausgewerteten Stellenausschreibungen weltweit, wie sich die Nachfrage nach chemietypischen Berufsbildern und Kompetenzen entwickeln – immer am Puls der Zeit. Die Unternehmen wissen, wohin die Reise in Sachen Skills geht und können sich personalstrategisch entsprechend ausrichten. Wichtig: Der Future Skills Report Chemie ist ein „lebendes“ Tool. Die Daten und Analysen sind eine Momentaufnahme, die regelmäßig aktualisiert werden soll.
Fachkräftesicherung à la Chemie
Dass der Future Skills Report nicht isoliert gesehen werden darf, sondern Teil einer Gesamtstrategie der Chemie-Sozialpartner ist, hob Petra Reinbold- Knape, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IG BCE, hervor. Kurz vor Fertigstellung sei das branchenspezifisch angepasste Qualifikationsanalyse-Tool „PYTHIA Chemie“, auch seien gerade regionale Pilotprojekte zur Entwicklung einer Weiterbildungsberatung für Unternehmen und Mitarbeiter der Branche auf den Weg gebracht worden. Wichtig sei es nun, die wertvollen Erkenntnisse aus dem Report in die Weiterbildung einfließen zu lassen – gerade für Beschäftigte in der Produktion.
Kai Beckmann, Präsident des BAVC und im Hauptjob Mitglied der Geschäftsleitung von Merck, zeigte sich begeistert von Methodik und Aufbereitung des Future Skills Report Chemie. Es sei wichtig gewesen, mit einem solch innovativen Tool auf Branchenebene voranzugehen; der zentrale Mehrwert für die Unternehmen liege darin, neueste Entwicklungen über Kompetenztrends frühzeitig zu erkennen, denn „Vorsorge“ sei besser als „Reparatur“. Nun sei es wichtig, für Kontinuität zu sorgen: Die Version 2.0 des Trend-Reports solle zügig in Angriff genommen werden.
Fachkräftebedarf ganzheitlich sichern
BAVC und IG BCE engagieren sich über ihre Branchenaktivitäten hinaus in der Nationalen Weiterbildungsstrategie (NWS). Julia Borggräfe, Leiterin der Abteilung Digitalisierung und Arbeitswelt im BMAS, hob hervor, dass die Bundesregierung mit der NWS einen Schritt in Richtung „Weiterbildungsrepublik“ (Hubertus Heil) gegangen sei. Sie bedankte sich für das Engagement der Chemie-Sozialpartner im Themenlabor „Strategische Vorausschau und Analyseinstrumente“.
Mit Lust an der pointierten Aussage meldete sich Thomas Sattelberger in einer Doppelrolle zu Wort: Als bildungspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und Vorstandsvorsitzender der Initiative „MINT Zukunft schaffen!“ legte er den Finger in eine seit Jahren schwärende Wunde: die MINT-Fachkräftelücke. Diese sei laut aktuellem MINT-Frühjahrsreport nach coronabedingtem Rückgang wieder im Steigen begriffen. Es gelte, stärker auf qualifizierte Zuwanderung zu setzen, junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern – und nicht zuletzt das System der beruflichen Bildung auf den Prüfstand zu stellen: zu langsam, zu wenig am Wandel der volkswirtschaftlich relevanten Geschäftsmodelle orientiert.
KI und Berufsbildung: zwei Welten?
Diesen Fehdehandschuh in Richtung Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) nahm dessen Präsident, Friedrich Hubert Esser, bereitwillig auf. Die „Langsamkeit“ der Entwicklung und Anpassung von Berufsbildern sei zugleich deren Stärke: Erst die – in der Tat manchmal langwierige – Zustimmung der Sozialpartner garantiere die Qualität der Ordnungsarbeit ebenso wie die Akzeptanz ihrer Ergebnisse auf betrieblicher Ebene. Nicht die Verfahren selbst seien also das Problem, sondern der Verhandlungscharakter der formal beim BIBB angesiedelten Prozesse: „KI hilft hier gar nicht“. Im Übrigen kämen in der Ordnungsarbeit bereits seit Längerem innovative Methoden zum Einsatz, beispielsweise bei den Berufe- und Branchen-Screenings.
Die Einzelimpulse waren längst in den regen, kontroversen und instruktiven Austausch übergegangen: ein Pingpong der Positionen und Argumente. Es fühlte sich irgendwie falsch an, als die Moderatorin Julia Kropf mitten im „Flow“ die Schlussrunde einläuten musste.
Was das mit Nachhaltigkeit zu tun hat?
Bleibt noch zu klären, was KI und Future Skills mit Nachhaltigkeit zu tun haben? Die eher formale Antwort lautet: Das vierte der globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen behandelt „hochwertige Bildung“ und formuliert unter anderem das Ziel, hochwertige berufliche Qualifikationen von Jugendlichen und Erwachsenen zu gewährleisten und bis 2030 weiter zu erhöhen. Aus Sicht der Hightech-Branche Chemie: Nur mit den richtig (aus)gebildeten Beschäftigten bleibt der Standort Deutschland, bleibt die deutsche Chemie zukunftsfähig. KI als neues, superschnelles Erkenntnisinstrument spielt für die Fachkräftesicherung eine wichtige Rolle, ist aber nicht allein entscheidend. Oder anders gesagt: KI ist nicht alles, aber ohne KI ist alles nichts.
Linktipp: Der Future Skills Report Chemie (FSR) analysiert mithilfe künstlicher Intelligenz die Veränderung von Anforderungsprofilen und die Nachfrage nach branchenrelevanten Berufen in einem definierten Zeitraum. Vertiefende Infos zur Methodik und sämtliche Ergebnisse finden Sie unter future-skills-chemie.de