BAVC-Studie „Chemie-Arbeitswelten 2030“: Damit aus dem Umbruch ein Aufbruch wird
Kein Stein bleibt auf dem anderen: Wer die vielen Zeitungsartikel, Wortbeiträge und Veranstaltungen zum Thema „Transformation“ verfolgt, den beschleicht mitunter das Gefühl, unsere Wirtschaftsordnung befinde sich in Auflösung, und die Angst, dem hilflos ausgeliefert zu sein. Doch Gefühle sind trügerisch, und Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber. Der Vorstand des BAVC wollte dem etwas entgegensetzen: eine Analyse, die die Folgen der Transformation für die Arbeitswelt in der Chemie-Branche abschätzen hilft – und den Unternehmen der Branche damit Orientierung für die kommenden Jahre bietet. Doch halt! Was ist überhaupt mit „Transformation“ gemeint? Und um welche „Folgen“ soll es gehen?
There is no such thing as transformation
DIE Transformation gibt es nicht – das war eine der ersten Erkenntnisse im Projekt „Chemie-Arbeitswelten 2030“, aus dem mit Unterstützung durch die Boston Consulting Group (BCG) und HR-Strateginnen und -Strategen der Branche die gleichnamige Studie hervorgegangen ist.
STANDPUNKT: BAVC-Präsident Kai Beckmann
„Die Weichen für Erfolg oder Misserfolg werden bis 2025 gestellt. Es ist eine aktive Entscheidung, einen Pfad anzustreben, der gut ist für die Beschäftigten, gut für die Industrie und gut für den Standort Deutschland.
Wir können gestalten – aber wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Was die Chemie in den kommenden Jahren grundlegend verändern wird, sind sechs relativ konkret beschreibbare Entwicklungen: als Top-Thema der Trend zur Nachhaltigkeit, besonders Dekarbonisierung, nachhaltige Lieferketten und Umsetzung der ESG-Prinzipien; zweitens Digitalisierung als Effizienz- und Wachstumstreiber; drittens Technologiewandel in der Produktion, zum Beispiel elektrische Steamcracker; viertens Verknappung und Preisanstieg bei Energie und Rohstoffen; fünftens geopolitische Verwerfungen wie regionale Blockbildung oder der russische Angriffskrieg auf die Ukraine; sechstens demografische Entwicklung und damit einhergehend Rückgang des Angebots an Arbeitskräften. Was Margaret Thatcher mit Blick auf einen anderen abstrakten Begriff auf den Punkt brachte – „There is no such thing as society“ –, gilt gleichermaßen für die Transformation.
Beschäftigungsbedarf ungewiss
Und nun zu den Folgen der Transformation: Die Studie gibt Antworten auf drei zentrale Fragen: Welche Beschäftigungseffekte sind bis 2030 zu erwarten? Wie verschieben sich Skills-Anforderungen? Und welche Rolle spielt HR?
Mit einem eigens entwickelten Chemie-Beschäftigungsmodell wird der Arbeitskräftebedarf entlang dreier Szenarien prognostiziert: Im Best-Case-Szenario („Fortschritt“) braucht die Chemie bis 2030 etwa 25.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Läuft die Transformation weniger rund („Stillstand“), werden 29.000 Arbeitsplätze weniger benötigt, im Worst Case („Rückschritt“) sogar 63.000 weniger. Es zeigt sich: Welche Beschäftigungschancen sich eröffnen, hängt ganz davon ab, welchen Transformationspfad die Branche beschreitet. Die Weichen dafür werden jetzt gestellt!
Skillshift Richtung IT und Nachhaltigkeit
Etwa bei der neuralgischen Skills-Frage: Gelingt es der Branche, schnellstmöglich die transformationskritischen Kompetenzen auszubilden? Die Studie geht von einem Skillshift in Richtung IT und Nachhaltigkeit aus – und das in Zeiten zunehmender Fachkräfteengpässe. Alleine im IT-Bereich braucht die Chemie – nicht gerade ein El Dorado für Fachinformatiker und IT-Systemelektronikerinnen – bis zu 9.000 zusätzliche Fachkräfte! Andererseits werden kaufmännische und Labor-Berufe über alle Szenarien hinweg weniger nachgefragt. Dieses Spannungsfeld – hier Bedarfsrückgänge, dort Bedarfszuwächse – wird die Unternehmen in Sachen Kommunikation, Recruiting und Retention vor große Herausforderungen stellen.
HR als Change Agent
Womit die wichtigsten Adressaten der Studie benannt sind: Die Personalerinnen und Personaler müssen zum einen das gesamte Arsenal moderner HR-Methoden nutzen, um die Fachkräftebasis des jeweiligen Unternehmens an die Erfordernisse der Transformation anzupassen. Wichtig werden insbesondere die langfristige Planung von Employee Journeys, die Modernisierung der Talentakquise und Ansprache neuer Zielgruppen auf dem Arbeitsmarkt sowie die Kombination der strategischen Personalplanung mit den Ergebnissen der drei Szenarien. Mehr noch: Da HR in der Transformation eine Schlüsselrolle als Change Agent zukommt, muss sich der Personalbereich selbst transformieren und neue Kompetenzen aufbauen, etwa im Umgang mit KI-gestützten Rekrutierungstools oder im Personalmarketing. Der Skillshift braucht einen Shift in der Personalarbeit.
Politik: Rahmenbedingungen verbessern
Doch den Rahmen für eine erfolgreiche, das heißt den Unternehmenserfolg unterstützende Personalarbeit, setzt die Politik. Und hier liegt vieles im Argen.Weder vermitteln die Schulen in ausreichendem Maß digitale Kompetenzen noch werden die Potenziale einer arbeitsmarktorientierten Zuwanderungspolitik auch nur annähernd ausgeschöpft oder die inländischen Schätze gehoben: Berufsorientierung, Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Beschäftigten oder MINT-Förderung sind die Stichworte. Auch die Infrastruktur lässt in Deutschland an vielen Stellen zu wünschen übrig, etwa – zentral für die Fachkräftequelle duale Ausbildung – bei den völlig unterfinanzierten Berufsschulen. Und die Weiterbildungspolitik war in den vergangenen Jahren zwar gut gemeint, aber selten gut gemacht.
Unternehmen: Attraktivität steigern
Um für alle drei Szenarien gewappnet zu sein, müssen die Unternehmen vor allem eines: attraktiver werden. Und zwar buchstäblich. Sie müssen ebenso „anziehend“ auf die eigenen Belegschaften wie auf potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten auf dem Arbeitsmarkt wirken; denn der ist auf absehbare Zeit ein Arbeitnehmermarkt, auf dem weniger die Bewerbenden um die Gunst der Unternehmen buhlen als umgekehrt. Wie das gehen soll? Über ein in der Strategie verankertes Employer Branding, das sich in entsprechende Maßnahmen des Personalmarketings, Recruitings und der Mitarbeiterbindung übersetzt; über flexible Arbeitsmodelle, auch und besonders in der Produktion; und über eine zeitgemäße, eben die jungen Menschen der 2020er Jahre „anziehende“ Kommunikation und vor allem Führungskultur. Und wer 2030 wirklich im Best-Case-Szenario angekommen sein will, kommt um eines garantiert nicht herum: deutlich mehr Engagement in Sachen Aus- und Weiterbildung.