Europa nach der Wahl: Neue Machtbalance und neuer Fokus?
370 Millionen Wahlberechtigte in den 27 Mitgliedstaaten der EU konnten bei der Europawahl vom 6. bis 9. Juni ihre Stimme abgeben und so über die Zusammensetzung der 720 Abgeordneten im Europäischen Parlament (EP) für die Legislaturperiode 2024 – 2029 entscheiden.
Ampel-Parteien verlieren die Europawahl
In Deutschland durfte erstmals ab 16 Jahren gewählt werden, was neben einer fehlenden Prozent-Hürde ein Grund für den Einzug vieler Kleinstparteien in das Europäische Parlament ist. Bei uns haben die Grünen die größten Verluste erlitten. Die beiden anderen Ampel-Parteien SPD und FDP haben einen moderateren Rückgang an Stimmen zu verzeichnen - allerdings schnitten die Sozialdemokraten so schlecht ab wie noch nie. Die AfD hat unter allen Parteien im Vergleich zur letzten Europawahl die meisten Wähler hinzugewonnen und ist in Deutschland insgesamt zweitstärkste Kraft. In allen ostdeutschen Bundesländern landete die AfD auf dem ersten Platz. Ihr Stimmenanteil liegt hier bei 29,7 Prozent (ohne Berlin). Die CDU/CSU kommt insgesamt auf 30 Prozent, wodurch sie zum einen ihr Ergebnis der letzten Europawahl halten konnte, zum anderen aber auch durch den Stimmenverlust der aktuellen deutschen Regierungskoalition als klarer Gewinner der Europawahl 2024 gilt.
Konservative Parteien gewinnen Einfluss
Der Wahlsieg der CDU/CSU markiert einen Trend, der auch im EU-weiten Wahlverhalten festzustellen ist. Trotz großer Ausreißer und Wahlgewinne im rechten Lager, insbesondere in Frankreich, den Niederlanden und Österreich sowie in Italien, haben die konservativen Parteien, die sich im Europäischen Parlament der EVP-Fraktion anschließen werden, die meisten Stimmen erhalten. Die zweitmeisten Stimmen und somit Sitze im Parlament entfallen auf die sozialdemokratische S&D- Fraktion. Auf europäischer Ebene haben Parteien aus dem rechten Lager an Stimmen hinzugewonnen und könnten zusammen die drittgrößte Fraktion bilden, was die Forderungen nach hochrangigen Positionen in den Institutionen lauter werden lässt. Daher sollte der Einfluss insbesondere der Parteien aus dem rechten Spektrum in ihrer Wirkung auf die Arbeit des Europäischen Parlaments, aber auch des Rates und der Kommission, nicht unterschätzt werden.
Die Mitte wird kleiner
Anders als in der Legislaturperiode 2019 – 2024 kann keine Mehrheit im Parlament ohne die EVP-Fraktion gebildet werden, außer die Fraktionen aus dem Mitte-Links-Lager würden sich mit Vertretern der Rechten zusammenschließen.
Dies bedeutet, dass die EVP politisch tonangebend sein wird. Zusammen mit S&D und Renew (Liberale) besteht auch weiterhin eine Mehrheit im Europäischen Parlament, die jedoch aufgrund fehlenden Fraktionszwangs auf wackeligen Beinen steht. Um die Wahl der Kommissionspräsidentin zu sichern, ist die EVP voraussichtlich auch auf Stimmen der Grünen angewiesen. Eine Kooperation mit einzelnen nationalen Delegationen - allen voran der italienischen - der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) wird außerdem als Option angesehen. Dies würde aber wiederum die Zustimmung der Sozialdemokraten und Liberalen riskieren.
EU braucht einen Industrial Deal
Trotz der noch unklaren Zusammenarbeit der Fraktionen im Europäischen Parlament und offenen Personalposten sind die großen Themen für die Legislaturperiode 2024 - 2029 bereits vom Rat gesetzt: Sicherheits- und Verteidigungspolitik angesichts zunehmender weltweiter Spannungen, die internen Aufgaben der EU beim Thema Wettbewerbsfähigkeit angesichts der Klimaziele und der Umsetzung des Green Deals, die Rolle der EU im Konflikt zwischen den USA und China, etwaige Beitritte zur EU im Spannungsfeld des Krieges in der Ukraine sowie die Bekämpfung irregulärer Migration.
Durch den klaren Wahlerfolg der EVP wird Ursula von der Leyen die EU-Kommission wahrscheinlich erneut anführen. Der Kurs der vergangenen Legislaturperiode dürfte jedoch umschwenken zu einer Agenda mit einem stärkerem Fokus auf die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Ob eine von ihr angekündigte Reduzierung von Bürokratie und Berichtspflichten auch im Bereich der Sozialpolitik ankommt, bleibt abzuwarten. Zudem ist zu beachten, dass viele bereits verabschiedete Maßnahmen der letzten Legislaturperiode noch von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen. Dazu gehören die Richtlinien über Nachhaltigkeitsberichterstattung und Lohntransparenz. Dies wird zu Mehrbelastungen für die Unternehmen in der EU führen und das zu einem Zeitpunkt, an dem die europäische Politik eigentlich andere Signale an die Wirtschaft senden sollte.
Die Unternehmen brauchen ein sofortiges Belastungsmoratorium. Gleichzeitig müssen bestehende Gesetze so transformiert werden, damit sie für die Wirtschaft handhabbar werden. Dazu gehört die überfällige Überarbeitung der 883-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die Unternehmen von A1-Formularen für Dienstreisen und kurzzeitige Dienstleistungserbringung entlasten muss. Außerdem müssen im Zuge der Überarbeitung auch Fragen des mobilen Arbeitens im EU-Ausland geklärt werden. Darüber hinaus muss das Pilotprojekt der eDeclaration als vereinheitlichtes und mehrsprachiges elektronisches Formular für die arbeitsrechtliche Entsendemeldung für alle EU-Staaten rechtlich verbindlich werden.