Der Manteltarifvertrag: Rahmenbedingungen für Arbeitsverhältnisse
Der Manteltarifvertrag Chemie (MTV) gestaltet die maßgeblichen Arbeitsbedingungen der rund 585.000 Beschäftigten in der chemischen Industrie. Durch den MTV werden unter anderem die Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Zuschläge, Urlaub und Kündigungsfristen geregelt. Die weiteren Tarifwerke der chemischen Industrie knüpfen an den Geltungsbereich sowie die inhaltlichen Regelungen des MTV an.
Erstfassung aus 1953 enthielt bereits interne Schlichtung
Erstmals abgeschlossen wurde der MTV nach dreijähriger Verhandlung mit Wirkung zum 1. April 1953. Die damaligen Tarifvertragsparteien waren der Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie (heute: BAVC) und die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (heute: IGBCE). Bereits die Erstfassung enthielt 18 umfangreiche Tarifnormen, die unter anderem die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden, Zuschläge für Mehr-, Nacht- sowie Sonn- und Feiertagsarbeit, Urlaub und Kündigungsfristen sowie eine dreimonatige Ausschlussfrist umfassten. Des Weiteren fanden sich bereits Regelungen zu Lohnbestimmungen und Lohngruppen, die mittlerweile im gesonderten Bundesentgelttarifvertrag normiert sind.
Schon 1953 setzten die damaligen Tarifparteien mit einem im MTV vereinbarten tariflichen Schlichtungs- und Schiedswesen frühzeitig ein klares Signal für die Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie. Auch heute noch ist ein rein brancheninternes Schlichtungsverfahren vorgesehen.
Flexibilität durch Nutzung gesetzlicher Öffnungsklauseln
Bis heute steht der MTV als Fundament in der Tariflandschaft Chemie. Er gewährleistet nicht nur die Einheitlichkeit der Rahmenbedingungen für Arbeitsverhältnisse, sondern bietet den Arbeitgebern zahlreiche Flexibilisierungsmöglichkeiten und begegnet den Besonderheiten der Branche mit Gestaltungsspielräumen auf Betriebsebene. Durch die Nutzung gesetzlicher Öffnungsklauseln seit Inkrafttreten des MTV, beispielsweise beim Arbeitszeitgesetz oder dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, ermöglichen die Tarifparteien den Arbeitgebern passgenaue Lösungen für die betriebliche Praxis.
Anschaulich wird der betriebliche Gestaltungsspielraum anhand der Arbeitszeit. Die regelmäßige tarifliche Wochenarbeitszeit beträgt 37,5 Stunden. Es ist möglich, die tarifliche Wochenarbeitszeit zu überschreiten, sofern die Überschreitung innerhalb von 12 Monaten ausgeglichen und im Durchschnitt die tarifliche Wochenarbeitszeit erreicht wird. Die Betriebsparteien können diesen Verteilzeitraum sogar auf bis zu 36 Monate erweitern und damit beispielsweise Schichtsysteme weit im Voraus planen und gleichzeitig flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren. Zusätzlich eröffnet der MTV den Betriebsparteien mit dem so genannten Arbeitszeitkorridor die Möglichkeit, für einzelne Arbeitnehmergruppen eine bis zu 2,5 Stunden längere oder kürzere regelmäßige Wochenarbeitszeit festzulegen. Mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien kann dieser Arbeitszeitkorridor auch für größere Betriebsteile oder ganze Betriebe eingeführt werden.
Zulagen, Zuschläge und Zuschüsse
Im MTV geregelt sind zudem Zulagen für Schichtarbeit, Zuschläge für (un-)regelmäßige Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit und – sofern nicht durch Freizeit auszugleichen – für Mehrarbeit. Zusätzlich sind Zuschüsse sowohl im Fall des Krankengeldbezugs nach sechswöchiger Entgeltfortzahlung als auch im Fall des Kurzarbeitergeldbezugs tarifvertraglich vorgesehen.
Urlaub und Freistellung
Die Beschäftigten der chemischen Industrie haben Anspruch auf 30 Urlaubstage pro Jahr. Der Urlaubsanspruch erhöht sich auf bis zu 33 Tage für einen Beschäftigten, der überwiegend in vollkontinuierlicher Wechselschicht arbeitet. Unter vollkontinuierlicher Wechselschicht versteht man ein Schichtsystem, in dem der Arbeitsplatz wöchentlich an sieben Tagen für 24 Stunden besetzt ist und der Beschäftigte gemäß eines Schichtplans auch an Wochenenden und nachts eingesetzt wird. Ein Anspruch auf zusätzliches Urlaubsgeld von 40 Euro für jeden tariflichen Urlaubstag ist im gesonderten Tarifvertrag über Einmalzahlungen und Altersvorsorge normiert. Im MTV kommen einzelne Freistellungstage für besondere Anlässe hinzu, wie beispielsweise Eheschließung, Beisetzung, Arbeitsjubiläen oder höhere Gewalt. Grundsätzlich ist dem Beschäftigten in diesen besonderen Fällen die Freistellung ohne Anrechnung auf seinen Urlaub und ohne Verdienstminderung zu gewähren.
Neues durch den aktuellen Tarifabschluss
Zur Stärkung der beiderseitigen Tarifbindung haben sich IGBCE und BAVC im Tarifabschluss vom 27. Juni 2024 darauf verständigt, den sozialpartnerschaftlichen Kurs der Branche fortzusetzen. Die durch die IGBCE zuvor gekündigte Schlichtungsvereinbarung gilt nun unverändert weiter, sodass auch künftig bis zum erfolglosen Abschluss einer Schlichtung die Friedenspflicht gilt. Im Gegenzug erhalten aktive Mitglieder der IGBCE einen Zeitausgleich für ihr gewerkschaftliches Engagement. Es soll dem Einsatz für Sozialpartnerschaft und Tarifbindung Rechnung getragen werden, wie er durch das gewerkschaftliche Engagement zum Ausdruck kommt. Diese Regelung würde im Falle der Kündigung der Schlichtungsvereinbarung wieder außer Kraft gesetzt.
Im Detail: Der neue § 8 V MTV
Beginnend im Jahr 2025 erhalten tarifbeschäftigte IGBCE-Mitglieder gemäß dem neu eingefügten § 8 V MTV auf Antrag und gegen entsprechenden Nachweis für ihr gewerkschaftliches Engagement eine bezahlte Freistellung von einem Arbeitstag pro Kalenderjahr. Für langjährige Mitgliedschaften (10, 25, 40 und 50 Jahre) erhalten IGBCE-Mitglieder im jeweiligen Jubiläumsjahr einen zusätzlichen Freistellungstag. Der jeweilige Anspruch setzt voraus, dass die IGBCE-Mitgliedschaft am 1. Januar eines Kalenderjahres (Stichtag) seit mindestens 3 Monaten besteht und das Mitglied seine aktive, durch Engagement geprägte Mitgliedschaft gegenüber dem Arbeitgeber bis zum 31. März mit einer Bestätigung der IGBCE nachgewiesen hat. Andernfalls entfällt der Anspruch für das Kalenderjahr ersatzlos. Bei der Festlegung des Zeitausgleichs sind die betrieblichen Notwendigkeiten und die Wünsche des Beschäftigten entsprechend der Festlegung des Urlaubsanspruchs zu berücksichtigen. Wird der Tag in einem Kalenderjahr nicht realisiert, entfällt er ersatzlos.
Neue Serie: Was die Chemie-Tarifverträge regeln und leisten und was nach dem Tarifabschluss 2024 neu ist, zeigen wir mit einer Serie im BAVC-Impuls. In der nächsten Ausgabe: das Thema »Bundesentgelttarifvertrag (BETV)«.