Koalitionsvertrag: Mit Licht und Schatten
Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Gleiches gilt für den Koalitionsvertrag der künftigen Bundesregierung. Zwangsläufig, so hat es den Anschein, folgt auch er dem ungeschriebenen Gesetz, wonach die Union in Koalitionsverhandlungen mit der SPD die gewünschten Wirtschaftsreformen immer nur auf Kosten der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Themen durchsetzen kann. Für die Chemie-Arbeitgeber steht jedoch fest: Ohne strukturelle Reformen steigen die Sozialabgaben weiter und der Kurswechsel kann nicht gelingen. Damit steht die erhoffte Wirtschaftswende auf dem Spiel – Sondervermögen hin oder her. Entscheidend ist, dass die neue Bundesregierung die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, nicht nur bei der Steuer- und Energiepolitik, sondern bei allen Politikfeldern in den Mittelpunkt stellt.
Wirtschaftswende für mehr Dynamik
Der BAVC begrüßt ausdrücklich, dass sich CDU/CSU und SPD angesichts der geopolitischen Herausforderungen und des enormen Investitionsbedarfs schnell auf einen Koalitionsvertrag geeinigt haben. Schon die Aufweichung der Schuldenbremse zur Finanzierung der Bundeswehr und der Beschluss eines 500-Milliarden Euro Sondervermögens für die Infrastruktur waren mutige Entscheidungen. Um in der Außen- und Sicherheitspolitik international wieder anerkannt zu werden, braucht es entschlossenes Handeln. Zugleich hätten allerdings strukturelle Reformen verbindlich vereinbart werden müssen.
Sinkende Energiepreise und Steuern im Zusammenspiel mit den geplanten Sonderabschreibungen und einem breit angelegten Bürokratieabbau könnten aber die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen deutlich erhöhen und neue Wirtschaftsdynamik entfachen. Die neue Bundesregierung sollte daher nun zügig handeln und diese Reformen auf den Weg bringen. Auch das Digitalministerium muss schnell an den Start gehen. Die Digitalisierung der Verwaltung wäre nicht nur für Unternehmen, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger ein echter Befreiungsschlag. Nach dem Ampel-Streit ist es an der Zeit, die Interessen des Landes wieder in das Zentrum des Regierungshandelns zu stellen. Dabei wäre auch eine verkürzte parlamentarische Sommerpause für den Bundestag ein richtiges Signal.
Sozialpolitik auf falschem Kurs
Wie schon in früheren Regierungsbündnissen mit den Sozialdemokraten musste die Union aber auch in diesen Verhandlungen große Zugeständnisse machen. Zugunsten von Sonderabschreibungen, Senkung der Körperschaftssteuer sowie der Energiekosten hat sie im Gegenzug erneut große Zusagen im Arbeitsrecht und in Form von unterlassenen Strukturreformen in den Sozialversicherungen gemacht. Daran ist aber auch die CSU nicht unschuldig. Indem sie selbst Wahlgeschenke wie die Mütterrente kompromisslos durchgesetzt hat, war an strukturelle Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung mit der SPD nicht mehr zu denken. Als Konsequenz werden die Unternehmen im internationalen Wettbewerb auch in den kommenden Jahren weiter unter den anhaltend hohen Arbeitskosten leiden. Zugleich bleibt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern immer weniger Netto vom Brutto. Für sie ist die versprochene Reform der Einkommenssteuer nur ein schwacher Trost. Denn sie steht, wie auch die Unternehmenssteuerreform, unter einem erklärten Finanzierungsvorbehalt. Nur eines scheint gewiss: Das Rentenniveau bleibt auch unter dieser Regierung garantiert – komme, was wolle!
Zumindest konnte sich die Koalition darauf verständigen, die betriebliche Altersversorgung weiter zu stärken. Die Geringverdienerförderung ist ebenso richtig wie die angestrebte Vereinfachung und Digitalisierung der Vorsorge. Zur weiteren Verbreitung wäre aber aus Sicht des BAVC zudem eine Förderung des Sozialpartnermodells wünschenswert. Die anstehenden Gesetzgebungsverfahren bieten hier noch Anknüpfungspunkte.
Arbeitsmarktreformen mit Haken und Ösen
Mit der Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes wird eine Kernforderung des BAVC umgesetzt. Statt der täglichen soll nun eine wöchentliche Betrachtung möglich sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die von der Koalition erzielte Einigung, die Vertrauensarbeitszeit weiter ohne elektronische Zeiterfassung erlauben zu wollen. Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens wird dies ein wichtiger (Knack-)Punkt sein. Denn die elektronische Zeiterfassung soll, so sieht es der Koalitionsvertrag vor, ansonsten verpflichtend kommen. Als Chemie-Arbeitgeber setzen wir uns darüber hinaus weiter für eine gesetzliche Öffnungsklausel ein, damit auch die Ruhezeiten von den Tarifparteien flexibler, z.B. in zwei Blöcken, vereinbart werden können.
Sozialpartnerschaftliche Lösungen sollten immer vor gesetzlicher Regulierung stehen. Dies gilt auch mit Blick auf die Weiterentwicklung der Mitbestimmung, welche die neue Bundesregierung in Angriff nehmen möchte. Die Politik kann den richtigen gesetzlichen Rahmen etwa zum Einsatz von KI in Unternehmen setzen. Die konkrete Ausgestaltung sollten dann aber unbedingt die Sozialpartner mit ihren Kenntnissen aus der Unternehmenspraxis übernehmen.
Die von den Koalitionären ebenfalls beschlossene steuerliche Begünstigung von gezahlten Mehrarbeitszuschlägen würde zwar auf den ersten Blick den Anreiz zu Mehrarbeit erhöhen. In der Chemie würden die Mitarbeitenden davon aber nicht profitieren. Denn hier wird Mehrarbeit 1:1 in Freizeit ausgeglichen. Zugleich würde der Druck auf tarifvertragliche Regelungen steigen. Sinnvoller wäre es, die Steuer- und Sozialabgaben grundsätzlich für alle Beschäftigten zu senken. Positiv sind dagegen die Beschlüsse zur Reform des Bürgergelds. Hier konnte sich die Union durchsetzen, indem die Hinzuverdienste verbessert, das Vermögen stärker angerechnet sowie die Sanktionen für Empfänger der Transferleistungen erhöht werden sollen. Damit nähert man sich der alten Grundsicherung wieder an und erhöht die Arbeitsanreize für erwerbsfähige Langzeitarbeitslose.
Fachkräftesicherung geht in die richtige Richtung
Auch die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen ist als gestecktes Ziel in der neuen Strategie der Bundesregierung zur Fachkräftesicherung wünschenswert. Aus Sicht der Chemie-Arbeitgeber kommt dafür dem flächendeckenden Ausbau der Kinder- und Betreuungsinfrastruktur eine Schlüsselrolle zu. Gleiches gilt für die Fachkräfteeinwanderung, welche die kommende Bundesregierung vereinfachen möchte. Mit den geplanten zentralisierten und digitalisierten Prozessen können Anerkennungsverfahren beschleunigt und der Ausbau der Beschäftigung erreicht werden. Die Bündelung aller Verfahren in einer „Work-and-Stay-Agentur“ ist dabei ein richtiger Schritt, um gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten den Bürokratiewahnsinn zu beenden.
Europapolitik gewinnt wieder an Format
Nach dem schwachen Auftritt der Ampel-Regierung in Brüssel ist es wichtig, in der Europapolitik neue Stärke zu zeigen. Vor diesem Hintergrund sind die Beschlüsse von Union und SPD für eine bessere, frühzeitigere Koordinierung innerhalb der Bundesregierung richtig und wichtig. Insbesondere das geplante EU-Monitoring zu neuen Gesetzgebungsverfahren der EU-Kommission kann dazu beitragen, dass die Bundesregierung künftig schneller und schlagkräftiger als bisher Position beziehen kann. Dies wäre schon deshalb wünschenswert, damit das erklärte Ziel der EU-Kommission, die Berichtspflichten um mindestens 25 Prozent zu reduzieren, auch tatsächlich erreicht wird. In diesem Zusammenhang begrüßen die Chemie-Arbeitgeber ausdrücklich, dass die Koalitionäre der Versuchung widerstehen wollen, bei der Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht die Brüsseler Vorgaben nicht noch zu „vergolden“ (EU-Goldplating). Allein dies wäre aus Sicht der Wirtschaft eine große Errungenschaft.