Lage der Branche: Chemie in der Krise
Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland befindet sich zum Jahreswechsel weiterhin in einer außergewöhnlich schwierigen wirtschaftlichen Situation. Die aktuelle Krise ist die schwerste seit Jahrzehnten. Die Zange aus schwacher Entwicklung der Weltwirtschaft einerseits und strukturellen Nachteilen des Standorts andererseits hat die Branche fest im Griff.
Weltwirtschaft ohne Dynamik
Die geopolitische Situation, das hohe Zinsniveau und teilweise nur langsam zurückgehende Inflationsraten bestimmen weiter die weltweite wirtschaftliche Entwicklung. Konsumenten, Investoren und Unternehmen sind vielfach verunsichert; Zurückhaltung ist die Folge. Entsprechend stagniert die Produktion in vielen Industriezweigen und Ländern. Der Internationale Währungsfonds geht in seiner aktuellen Prognose davon aus, dass das Wachstum in den klassischen Industrienationen auch 2024 noch einmal zurückgeht und im Durchschnitt bei nur noch 1,4 Prozent liegen wird.
STANDPUNKT: BAVC-Präsident Kai Beckmann
„In der Chemie stehen die Zeichen unverändert auf Krise: Die Nachfrage ist weiter schwach und die Strukturprobleme sind ungelöst. Hinzu kommt die Transformation, die jedes Unternehmen fordert. Kernaufgabe für 2024 ist, den Standort Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Das gilt für die politische Agenda genauso wie für die Verteilungsfragen zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern.“
Da auch viele Entwicklungs- und Schwellenländer eine schwächere Dynamik durchleben, wird ein Wachstum der Weltwirtschaft von insgesamt nur 2,9 Prozent in 2024 erwartet, deutlich unter dem Mittelwert der beiden letzten Jahrzehnte von knapp 4 Prozent. Auch 2024 wird somit ein ausgesprochen schwaches Jahr für die Weltwirtschaft werden. Die deutsche Wirtschaft ist 2023 um rund 0,5 Prozent geschrumpft. Nach der Prognose des IW Köln vom Dezember wird sich dies 2024 in derselben Größenordnung fortsetzen. Deutschland wird keinen Weg aus der Rezession finden und erneut eine der schwächsten Entwicklungen aller Industrienationen aufzeigen.
Standort Deutschland mit schwerwiegenden Nachteilen
Erst zum zweiten Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird damit das reale Bruttoinlandsprodukt in Deutschland in zwei aufeinander folgenden Jahren sinken. Denn zur Krise der weltwirtschaftlichen Entwicklung tritt für die Unternehmen in Deutschland die Krise der Wettbewerbsfähigkeit des heimischen Standorts hinzu. Die gerade im internationalen Vergleich viel zu hohen Energie- und Rohstoffpreise belasten große Teile der Betriebe massiv.
Im Zusammenspiel mit der trotz aller Beteuerungen weiter wachsenden bürokratischen Belastung und Regulierung, den hohen Arbeitskosten, der Unsicherheit über die Fiskalpolitik und den riesigen Herausforderungen der Transformation scheint ein Kipppunkt für Teile der Wirtschaft erreicht. Das könnte einen Dominoeffekt auslösen. Ohne ein entschlossenes Gegensteuern und den Verzicht auf weitere Belastungen erscheint es fraglich, ob diese Teile der Industrie auf einen Erfolgspfad finden könnten, selbst wenn die Weltwirtschaft wieder dynamischer wachsen sollte.
Chemie-Produktion auf historischem Tief
Die Produktion der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist in 2023 noch einmal eingebrochen. Sie lag in Summe rund 8 Prozent niedriger als im Jahr zuvor. Und auch 2022 war das Volumen der von den Unternehmen der Branche produzierten Waren bereits um 7 Prozent gesunken. Einen vergleichbaren Rückgang der produzierten Mengen in zwei aufeinander folgenden Jahren hat die Branche noch nicht erlebt. Das Produktionsniveau ist in etwa auf das des Jahres 2005 zurückgefallen. Die Produktion am Standort Deutschland ist damit in vier der letzten fünf Jahre geschrumpft.
Die beste Nachricht ist derzeit, dass die Geschwindigkeit des Absturzes in den vergangenen Monaten nachgelassen hat. Es scheint ein Niveau erreicht, auf dem eine Stabilisierung möglich ist. Das ändert aber nichts an der Einschätzung, dass sich die Branche in Summe wirtschaftlich in einem extrem tiefen Tal befindet. Eine Erholung oder gar Trendwende ist nicht erkennbar.
Durchschnittsbetrachtung verschleiert Dramatik
Die wahre Dramatik für einzelne Bereiche der Branche wird dabei von den Durchschnittsdaten verschleiert. Denn die strukturellen Nachteile des Standorts betreffen die Betriebe in unterschiedlicher Form. Die Produktion sank entsprechend 2023 in manchen Teilbranchen „nur“ im Rahmen einer schwachen konjunkturellen Entwicklung, so in der pharmazeutischen Industrie (minus 3 Prozent).
In einzelnen Chemie-Branchen hingegen ging es im vergangenen Jahr um über 15 Prozent nach unten. Dies betraf zum Beispiel die Herstellung von chemischen Grundstoffen. Neben der Grundstoffchemie stellen auch die Bereiche Pflanzenschutz, Chemiefasern und Gummiwaren heute über 20 Prozent weniger her als noch 2015.
Viele Kapazitäten liegen brach
Die vom ifo-Institut gemessene Auslastung der Kapazitäten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie hat im Herbst 2023 mit rund 75 Prozent ebenfalls ein extrem niedriges Niveau erreicht. Von der durchschnittlichen Auslastung der vergangenen Jahrzehnte von knapp 85 Prozent sind die Betriebe in Summe deutlich entfernt. Eine ähnlich schlechte Auslastung der Produktionsanlagen über mehrere Quartale wie zurzeit wurde in den letzten Jahrzehnten nur 1993 und während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 gemessen. Den Unternehmen der Branche fehlen die Aufträge und in Teilen die notwendige Wettbewerbsfähigkeit am Standort, um ihre Betriebe ausreichend auszulasten.
Aufträge seit Frühjahr 2022 rückläufig
Die negative Entwicklung und die fehlende Perspektive lässt sich auch an den Auftragseingängen ablesen. Seit März 2022 bis zum Oktober 2023 weist jeder einzelne Monat in der amtlichen Statistik einen niedrigeren Wert für die erfassten neuen Aufträge der chemisch-pharmazeutischen Industrie aus als jeweils ein Jahr zuvor. Auch hier bleibt bestenfalls der schwache Trost, dass der Absturz zuletzt an Geschwindigkeit abgenommen hat und eine Talsohle erkennbar wird.